Temperamentskonzepte

2.1 Das Konzept von Hippokrates/Galenus 
2.2 Die Untersuchung von Thomas und Chess 
2.3 Die Kindertypologie von Kaniak-Urban 

2.1 Das Konzept der Antike

Die heute noch weit verbreitete Vier-Temperamentenlehre lässt sich bis ins alte Griechenland zu Empedokles und Hippokrates zurückverfolgen. Die Griechen gingen davon aus, dass die Natur sich aus den vier Elementen Luft, Erde, Feuer und Wasser zusammensetzt. Da sich in jedem Menschen die Natur widerspiegelt ordnete Hippokrates den Elementen der Natur bestimmte Körpersäfte zu. Mit der Dominanz eines bestimmten Körpersaftes wurde dann die Vorherrschaft eines bestimmten Temperaments in Verbindung gebracht.

Kosmische Elemente Deren Eigenheiten Entsprechende Körpersäfte Entsprechende Temperamente
Luft warm und feucht Blut Sanguiniker
Erde kalt und trocken Schwarze Galle Melancholiker
Feuer  warm und trocken Gelbe Galle Choleriker
Wasser kalt und feucht Phlegma Phlegmatiker

Tabelle 1: Antike Temperamentsauffassungen und ihre Entsprechungen. (nach Allport, 1970 aus: Zentner1993, S.17)

Galenus übernahm diese Temperamentenlehre und baute sie weiter aus. Er ging davon aus, dass die Gesundheit mit der richtigen Mischung der Körpersäfte zusammenhängt. Dadurch lässt sich wahrscheinlich auch der Begriff Temperament erklären. (lat. temperare = abstimmen, mischen)
Galenus hat sich, wahrscheinlich als der Erste, mit den Temperamenten von Kindern beschäftigt. Er stellte fest, dass sich schon in früher Kindheit Verhaltensunterschiede beobachten lassen.

2.2 Die Untersuchung von Thomas und Chess

Thomas und Chess gehen davon aus, dass Verhaltensunterschiede bei Kindern nicht, wie häufig angenommen, durch Umwelteinflüsse bestimmt werden, sondern dass sie angeboren sind. Um diese Annahme zu bestätigen begonnen sie 1956 mit der New Yorker Längsschnittsstudie (NYLS) bei der über 100 Säuglinge bis die Gegenwart beobachtet wurden. Das zentrale Anliegen dieser Studie war, die unterschiedlichen Reaktionsweisen oder Unterschiede im Verhaltensstil des Säuglings zu erfassen und zu klassifizieren.
Thomas und Chess gehen vom Verhaltensstil aus, da sie Temperament und Verhaltensstil als synonym ansehen: "Der Ausdruck Temperament beschreibt ... am besten das Wie einer Verhaltensweise. Er unterscheidet sich von der Bezeichnung Fähigkeit, die das Was und Wie gut des Verhaltens beschreibt, und von der Bezeichnung Motivation, die erfassen soll warum eine Person etwas tut. Die Bezeichnung Temperament beschreibt dagegen die Art des Verhaltens eines Individuums. [...] Temperament wäre demzufolge synonym mit Verhaltensstil." (Thomas und Chess, 1980; zitiert nach Zentner, 1993, S.66)
Auf Grund der Auswertungen der Studie wurden versucht verschiedene Temperamentsdimensionen abzuleiten. Die leitenden Kriterien dafür waren der Anspruch Verhaltensweisen zu finden, die bei allen Kindern präsent sein sollten und die auf die psychische Entwicklung Einfluss zu haben scheinen. Die folgenden neun Temperamentsdimensionen sollen sich dafür eignen Unterschiede im Verhaltenstil (schon beim Neugeborenen) zu beschreiben (Definitionen zitiert nach Zentner, 1993, S.67 ff.).

1. Aktivität
"Niveau, Tempo und Häufigkeit, mit der die motorische Komponente im Verhalten hervortritt, sowie die Anteile passiven vs. aktiven Verhaltens im Tagesablauf."

2. Regelmäßigkeit
"Vorhersagbarkeit des Auftretens biologischer Funktionen wie der Schlaf-Wach-Rhythmus, Hunger und Stuhlgang."

3. Annäherung - Vermeidung
"Erste Reaktion des Kindes auf neue, unvertraute Reize seinen es Menschen oder Spielzeuge, Maßnahmen usw."

4. Anpassungsvermögen
"Die Leichtigkeit, mit welcher das Kind eine anfängliche Reaktion in die von der Umwelt gewünschten Richtung verändern kann."

5. Sensorische Reizschwelle
"Die Stärke eines Reizes, die nötig ist, um eine wahrnehmbare Reaktion hervorzurufen unabhängig von der Form, die diese Reaktion annimmt."

6. Stimmungslage
"Anzahl der positiven Reaktionen (Lächeln, Lachen, Freude, Zufriedenheit) im Verhältnis zur Anzahl der negativen Reaktionen (Weinen, Schreien, Unzufriedenheit)."

7. Intensität
"Die Energie oder Heftigkeit, mit welcher eine Reaktion zum Ausdruck kommt, ungeachtet der Qualität und Richtung dieser Reaktion."

8. Ablenkbarkeit
"Der Grad in welchem äußere Reize auf die Richtung des Verhaltens Einfluss oder es verändern können."

9. Ausdauer
"Die Zeit, in der ein Kind sich mit einer Tätigkeit trotz vorhandener Hindernisse beschäftigen kann."

In allen neun Dimensionen wurde das Verhalten des Kindes in einer 3-Punkte-Skala, hoch - mittel - niedrig, erfasst. Es konnten drei Konstellationen des Temperaments erkannt werden, die aus entsprechenden Kombinationen der Dimensionen in bestimmten Ausprägungsgraden festgestellt wurden: das "einfache" Kind, das "langsam auftauende" Kind und das "schwierige" Kind.

Das schwierige Kind ist gekennzeichnet durch Unregelmäßigkeit biologischer Funktionen, Vermeidungsreaktionen angesichts neuer Menschen und Situationen, langsames Anpassungsvermögen an Veränderungen, hohe Intensität von Reaktionen und eine vorwiegend negative Stimmungslage.
Das langsam auftauende Kind reagiert auf neue Situationen und Menschen mit Vermeidung und paßt sich nur gemächlich an diese an. Im Gegensatz zum schwierigen Kind sind die Reaktionen dieser Kinder gemäßigter, weniger heftig, das
Aktivitätsniveau ist niedrig und die Tendenz zu unregelmäßigen Eß- und Schlafgewohnheiten ist weniger ausgeprägt als beim schwierigen Kind.
Das einfache Kind ist gekennzeichnet durch Regelmäßigkeit biologischer Funktionen, Annäherungsreaktionen gegenüber unbekannten Menschen und Situationen, gutes Anpassungsvermögen an Veränderungen und eine gemäßigte und vorwiegend positive Stimmungslage. (Zentner 1993, S.76 f.)
Bei der NYLS - Untersuchungsstudie wurden 10% der Kinder als schwierige Kinder eingeschätzt, 15% als langsam auftauend und 40% als einfach, während 35% nicht klassifizierbar waren.

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