2.3 Die Kindertypologie von Kaniak-Urban
(vgl. Kaniak-Urban 1995)
Christine Kaniak-Urban stellt eine Kindertypologie vor, die
direkt für die Praxis konzipiert wurde. Als Anwendungsgebiete sind sowohl die
pädagogische Diagnostik, als auch das schulische Handeln und die Elternberatung
vorgesehen. Auf Grund der Ressourcen bestimmter Typen können Lebens- und
Lernwelten entworfen werden, in denen das Kind eines bestimmten Typus Impulse
für seine Persönlichkeitsentwicklung erfährt.
Theoretischer Hintergrund der Typologie ist das Modell der Persönlichkeit von
C.G.Jung. Dieser unterscheidet zwei bewusste Einstellungsweisen (deren Wurzeln
sich aber im Unbewussten befinden), die er mit den Polaritäten Extraversion und
Introversion bezeichnet.
Extravertierte Menschen wenden sich den Anforderungen der Außenwelt zu,
während introvertierte Menschen sich mit ihrer Innenwelt beschäftigen und auch
kein Interesse daran haben ihre Erfahrungen auszutauschen.
Auf dem Hintergrund von C. G. Jungs Persönlichkeitspsychologie haben die
amerikanischen Autoren D. Keirsey und M. Bates ein Temperamentenmodell
entworfen, das sich an den herausragenden Bedürfnissen und Lebenswerten von
Menschen orientiert. Die Autorin Kanik-Urban versucht dieses Modell unter
Einbeziehung entwicklungspsychologischer Erkenntnisse auf Kinder zu übertragen.
"Die Beschreibung der vier Kindertypen und ihrer Lebensstile folgt der
Phänomenologie der
Temperamente von D.Keirsey und M. Bates, wird aber
ergänzt durch eine Fülle an Material aus der eigenen Beobachtung in der
schulpsychologischen Diagnose und Beratung sowie dem Förderunterricht in der
Schule." (Kaniak-Urban, 1995)
Kaniak-Urban beschreibt und unterscheidet die Persönlichkeitsstruktur der
Kindertypen nach den entwicklungspsychologischen Grundbedürfnissen nach
Zugehörigkeit und Autonomie. Sie unterscheidet daher zwischen Wir-Experten und
Ich-Experten. Zu den Wir-Experten zählen das Seelchen-Kind und das
Pflicht-Kind. In der Rangreihe ihrer Grundbedürfnisse dominiert das Bedürfnis
nach Nähe und Beziehung zu wichtigen Bezugspersonen. Das Abenteurer-Kind und
das Schlaukopf-Kind (Ich-Experten) verfolgen dagegen an erster Stelle das Motiv
nach Autonomie und nach Unabhängigkeit.
Wir-Experten
Wir-Experten versuchen durch Einfühlung, Identifikation, Anpassung an Forderungen und Dienstleistungen ihr Entwicklungsstreben nach Zugehörigkeit, Nähe und Akzeptanz zu verwirklichen.
Das Seelchen-Kind oder die Kunst der Teilhabe
Seelchen-Kinder versuchen sich durch ihre Gefühle in der Welt
zurechtzufinden. Sie nehmen Anteil an den Freuden und Leiden der Mitmenschen,
können sich gut einfühlen und erwecken so positive Reaktionen in anderen
Menschen.
"Seelchen-Kinder brauchen nahe Beziehungen, und sie sind bereit, viel in
ihre Beziehungen zu investieren. Das Kind, das sein Fühlen als Orientierung
benützt, will gefallen und ist begierig auf Rückmeldung, daß es wertvoll ist
und geschätzt wird. Es erweist anderen Menschen Gefälligkeiten aller Art;
pflückt Blumen, schreibt eine Geschichte oder denkt sich etwas Originelles und
sehr Persönliches für den anderen aus." (Kaniak-Urban 1995, S.149)
Diese Kinder lieben Geschichten und können sich gut mit den Helden
identifizieren. Sie versinken in Filmen und Theateraufführungen, so daß diese
auch eine seelische Beslastung sein können. Außerdem träumen sie gerne und
tauchen in Phantasiewelten ab, in denen sie auch Phantasiefreunde haben.
Aufgrund des hohen Stellenwertes von Beziehungen sind Seelchen-Kinder eng an
ihre Familie gebunden, und nehmen Freundschaften ernst. Unter Störungen in der
Familie (Scheidung, Umzug, Geburt eines Geschwisters,...) leiden sie daher sehr.
In der Schule werden Seelchen-Kinder selten auffällig, da sie sich durch ihre
Kommunikationsfähigkeit und ihr gutes Sozialverhalten in das Schulsystem
einfügen.
Das Pflicht-Kind oder die Kunst, sich nützlich zu machen
Pflicht-Kinder wünschen sich klare Orientierungen und versuchen
Anforderungen so zu erfüllen, wie es die Erwachsenen erwarten, um damit ihren
Zugehörigkeitswunsch zu erfüllen. Die Aufgabe der Pflichterfüllung steht für
sie im Vordergrund.
"Das Pflicht-Kind versucht sein Bedürfnis nach Zugehörigkeit auch dadurch
zu befriedigen, daß es Dienste für andere ausführt und sich nützlich macht.
Diese Kinder sind zufrieden, wenn man ihnen fest umschriebene Aufgaben
überträgt; sie sind glücklich über die Anerkennung, die aus solcher
Tätigkeit erwächst, die sie zuverlässig ausführen. Werden die gelobt.
fühlen sie sich als nützliche Mitglieder einer Gemeinschaft, und ihr
Bedürfnis nach Anpassung und Zugehörigkeit ist befriedigt." (Kaniak-Urban,
1995, S.153)
Sie legen sehr viel wert auf Familientraditionen und fühlen sich auch für das
soziale Miteinander in der Familie verantwortlich. In der Schule arbeiten sie
gern nach vorgegebenen Schemata und fühlen sich überfordert, wenn Kreativität
von ihnen gefordert wird.
Ich-Experten
Für Ich-Experten steht das eigene Denken, Handeln und Erleben im Vordergrund. Sie versuchen damit ihr Entwicklungsziel nach Eigenständigkeit und Distanz zu anderen Menschen und deren Anforderungen zu verwirklichen.
Das Abenteuer-Kind oder die Kunst der Erfahrung
Abenteuer-Kinder nehmen ihre Umwelt durch die sinne wahr. Sie sehen,
schmecken, tasten, riechen und hören. "Auch draußen spielen sie gerne in
Sand und Schlamm und kommen dann verdreckt und mit Löchern in den Hosen nach
Hause.
Ihre Welt bringen sie auch ins Haus, und ihr Zimmer kann dann einem Warenlager
an Kuriositäten gleichen, vom rostigen Nagel bis zum Vogelskelett, deren Wert
nur sie selbst kennen." (Kaniak-Urban, 1995, S.157) Sie sind immer auf der
Suche nach Abenteuern, die sie erleben können, und können darüber auch
Aufgaben vergessen, die sie erledigen wollten oder sollten. Viele haben einen
starken Bewegungsdrang und lieben daher Spiele im Freien und Sport, aber auch
Bewegungen zu rhythmischer Musik. Diese Kinder haben Interesse an dem tun an
sich. "Der Begriff des Übens oder trainierens ist bei diesen Kindern nicht
angebracht. Sie trainieren nicht, um ihre Leistung zu verbessern und ein fernes
Ziel zu erreiche, vielmehr gehen sie in der Gegenwart in ihren Tun auf und
verbessern dann als 'Abfallprodukt' gleichsam nebenbei ihre Leistung." (Kaniak-Urban,
1995, S.158)
In der Schule fallen Abenteuer-Kinder häufig unangenehm auf, da sie ständig am
aktiven Tun interessiert sind. Im Unterricht suchen sie Kontakt zu anderen
Kindern oder werden in anderer Weise außerhalb des Unterrichtsgeschehens aktiv.
Das Schlaukopf-Kind oder die Kunst, durch Wissen Kontrolle zu
erhalten
Schlaukopf-Kinder versuchen sich in der Welt mit Hilfe ihres Intellekts zu
orientieren. Sie sind ständig auf der Suche nach Erklärungen und stellen
unnachgiebig Fragen. Meist sind es ernste und sehr selbstkritische Kinder, die
den Anspruch haben sich zu verbessern, nicht weil andere, sondern weil sie
selbst sich dieses Niveau stellen. Sie wollen Zusammenhänge verstehen, um die
Welt zu verstehen, ihr Verhalten planen zu können und damit die Kontrolle bei
sich zu behalten.
"Kinder dieses Typs erwecken den Eindruck, als ob sie ständig nach der
Formel suchten, mit der sie die Welt und ihr Funktionieren darin wahrnehmen,
erklären und prognostizieren können. Ihr Lebensstil macht sie zu geborenen
Forschern, vor allem auf naturwissenschaftlichem Gebieten aber auch zu
Computerspezialisten, die neue Systeme kreieren." (Kaniak-Urban, 1995,
S.164)
Diese Kinder leben nicht in Phantasie- oder Abenteuerwelten, sondern in
funktionierenden
Welten. Da Gefühle wenig
planbar sind versuchen Schlaukopf-Kinder durch Nichtbeachtung ihrer Emotionen
trotzdem die Kontrolle zu behalten. Sie halten eher Abstand zu anderen Menschen
und können sich daher auch manchmal einsam fühlen.