Tod des Vaters

Hugo Fried

24.5.1890 geboren in Wien
24.5.1938 gestorben in Wien

"Mein Vater war am Nachmittag des 24.Mai röchelnd, sichtlich dem Tod nahe, von einem Autofahrer und einem Polizisten die vielen Stufen zu unserer Wohnung hinaufgehievt worden. Ich war gerade auf dem Weg hinauf, überholte ihn im recht dunklem Treppenhaus, sah einen offenbar sterbenden, röchelnden Menschen mit weißem Stoppelbart und weißem Haarkranz um den ziemlich kahlen Schädel, sah eine Nachbarin, die mit den beiden Männern sprach und weinte, fühlte mich mit schlechtem Gewissen erleichtert, dass dieser sterbende Mensch anscheinend zu ihr gebracht wurde und nicht zu uns, obwohl ja meine Eltern in Haft waren, fragte die Nachbarin: "Frau Liebster, kann ich was für Sie tun?" Worauf sie mich an der Hand packte und laut sagte: "wissen Sie denn nicht wer das ist? Das ist ihr Vater!" Ich war kurzsichtig, der Treppenaufgang dunkel, und ich hatte meinen Vater nie weißhaarig oder unrasiert gesehen. Ich hatte ihn nicht erkannt. ...  Ich bettet meinen Vater in sein Schlafzimmer, gab ihm zu trinken, verweigerte ihm mit schlechtem Gewissen eine Zigarette, telefonierte unseren alten Hausarzt herbei. Ich wusste genau, dass es zu spät war, dass er sterben werde. Ich war nach außen wie gefroren, bewegte mich effizient, aber mechanisch. Alle meine Empfindungen waren zugleich da. Der alte Hass, die viel ältere Liebe des Kleinkindes und die neuere des Pubertätsmenschen, der zuletzt Verständnis und Kameradschaft erfahren, aber dem Vater doch nie mehr recht trauen gelernt hatte. Mein Entschluss, Schriftsteller zu werden, hatte ihn ungemein gefreut. - 
Mein Vater sagte mir, man habe ihm während eines Verhörs in den Magen getreten, seither sei es ihm immer schlechter gegangen. Der Arzt kam: "Warum hat man mich erst so spät geholt?" und gab ihm zwei Kampferinjektionen. "Ah Kampfer!" sagte mein Vater. Er wusste - genau wie ich-, dass das ein Mittel in letzter Stunde war. Ein vom Hausarzt verständigtes Krankenauto brachte ihn ins allgemeine Krankenhaus. Ich fuhr mit, wurde aber nach Hause geschickt; ich sollte am nächsten Morgen wiederkommen. Am nächsten Morgen erfuhr ich dort, dass er um 10 Uhr abend gestorben war." (Erich Fried 1988)

Begräbnis meines Vaters

Am Judenfriedhof ist viel Land umbrochen
und Sarg um Sarg kommt, und die Sonne scheint.
Der Pfleger sagt: So geht das schon seit Wochen.
Ein Kind hascht Falter, und eine Alter weint.

Dumpf fällt der Vater in die Erde,
ich werfe Lehm nach, feucht und kalt.
Der Kantor singt. Es wiehern die Pferde.
Es riecht nach Sommeraufenthalt.

Die mir die Gärten meiner Stadt versagen,
die Bank im staubigen Grün am Kai,
sie haben mir den Vater totgeschlagen,
dass ich ins Freie komm und Frühling seh.