"In Wien waren in jenem Jahr 1927 Rechtsradikale, die in der Ortschaft
Schattendorf Arbeiter ermordet hatten, von Richtern, die politisch den Mördern
näherstanden als ihren Opfern, in allen Instanzen freigesprochen worden;
zuletzt, trotz einer großen Demonstration empörter Arbeiter, am 14.Juli 1927
vom Obersten Gericht, das im Justizpalast tagte. Am folgenden Tag kam es zum
Zusammenstoß zwischen der Polizei und den demonstrierenden Arbeitern. Dabei
wurde ein Polizist getötet, die Polizei aber erschoss 86 Arbeiter.
An dem Tag war meine Mutter zufällig mit mir in den 1.Bezirk, die Innere Stadt,
gegangen und hatte, weil die Straßen seit Anfang des Kampfes nicht mehr
passierbar waren, in einem Laden bei Bekannten Zuflucht gefunden. Durch das
Schaufenster sah ich Bahren mit Toten und verwundeten. ...
1927 war mein erstes Schuljahr. ... Ich sollte nun zu Weihnachten im Festsaal
unserer Schule, einem großen Saal in einem nahen Gemeindehaus, die meine
Marktgasse-Schule mit zwei anderen teilte, eine Weihnachtsgedicht aufsagen. Als
ich schon auf der Bühne stand. hörte ich unten jemand sagen: "Der Herr
Polizeipräsident ist auch unter den Gästen." Also trat ich vor, verbeugte
mich und sagte in meiner besten Redemanier: "Meine Damen und Herren! Ich
kann leider mein Weihnachtsgedicht nicht aufsagen. Ich habe gerade gehört, Herr
Polizeipräsident Doktor Schober ist unter den Festgästen. Ich war am blutigen
Freitag in der Inneren Stadt und habe Bahren mit Toten und
Verwundeten gesehen, und ich kann vor Herrn Doktor Schober keine Gedicht
aufsagen." Nochmals verbeugte ich mich und trat dann zurück. Der Polizeipräsident,
den ich erst jetzt sah, sprang auf und verließ sofort, gefolgt von zwei,
drei Begleitern, den Saal. Er oder einer aus seinem Gefolge schlug krachend die
Tür zu. Ich trat wieder vor und sagte: "Jetzt kann ich mein
Weihnachtsgedicht aufsagen." (Erich Fried 1986)
Mit neun Jahren schrieb Fried ein Gedicht, welches noch einmal auf diesen erlebten "blutigen Freitag" bezug nimmt. Es bezieht sich auf eine Rede des Bundeskanzlers Seipel, in der dieser die Forderung nach seinem Rücktritt und auch die Forderung nach einer Amnestie der Demonstranten zurückweist. Außerdem spielt das Gedicht auf eine verzerrte Berichterstattung der Presse an:
Der Priester und Bundeskanzler Seipel
Hat gesagt "Keine Milde!"
Der Blutige Freitag hat gefragt:
"Bist du im Bilde?"
Im Bilde, da siehst du
Den verbrannten Justizpalast,
Damit du die Arbeiter
Als "rote Brandstifter" haßt.
Nicht im Bilde
Siehst du die seht milden Richter.
Im Justizpalast sprachen sie frei
Das Arbeitermördergelichter.
Im Bilde siehst du:
"Sozialisten und Kommunisten
Töteten heute
Einen diensttuenden Polizisten!"
Nicht im Bilde sah man das Pflaster
Vom Blut gerötet,
"Die Polizei hat heut,
sechsundachtzig Arbeiter getötet."